Tradition

Die Geschichte der Altertumswissenschaften an der Akademie steht im engen Zusammenhang mit einzelnen Akademiemitgliedern, von denen die jeweiligen Vorhaben inauguriert wurden.

Das erste derartige Unternehmen ist verbunden mit dem Namen August Böckhs [1785-1867], der 1814 zum ordentlichen Mitglied (OM) gewählt wurde. Bereits Barthold Georg Niebuhr [1776-1831; OM 1810] hatte die Sammlung der griechischen und lateinischen Inschriften angeregt; Böckh stellte den Antrag für einen »Thesaurus Inscriptionum«, und 1815 beschloß die Akademie, mit der Sammlung der griechischen Inschriften zu beginnen, die – von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff [1848-1931; OM 1899] reorganisiert – bis heute unter dem Namen Inscriptiones Graecae fortgesetzt wird.

Mit dem Namen von Immanuel Bekker [1785-1871; OM 1815] ist das nächste altertumswissenschaftliche Großprojekt der Akademie verbunden: Bekker wurde 1817 mit einer kritischen Aristoteles-Ausgabe betraut, die 1870 abgeschlossen war; bis 1878 folgte unter der Leitung von Hermann Diels eine Ausgabe der Scholien, denen sich von 1882 bis 1907 die Aristoteles-Commentare anschlossen. Die Tradition der Aristotelesphilologie an der Akademie wird durch das 2012 begründete Vorhaben Commentaria in Aristotelem Graeca et Byzantina fortgesetzt, das die kritische Edition und philologische Erschließung vor allem byzantinischer Kommentare, Paraphrasen, Kompendien und Scholien zu den Schriften des Aristoteles zum Ziel hat.

Die wohl fruchtbarste Wirkung bei der Schaffung neuer Akademie-Unternehmen ging von Theodor Mommsen [1817-1903; OM 1858] aus. Er legte 1847 der Akademie den Plan für ein Corpus Inscriptionum Latinarum vor und erhielt im folgenden Jahr eine Honorarstelle an der Akademie zur Vorbereitung dieses Projektes. Nach der endgültigen Annahme des Planes durch die Akademie wurde Mommsen 1853 mit der Hauptredaktion betraut. Der erste Band des CIL erschien 1863. Um die aus der Arbeit am lateinischen Inschriftenwerk gewonnenen biographischen Daten zu erschließen, regte Mommsen 1874 die Arbeiten an der Prosopographia Imperii Romani an. Seit 1888 arbeitete man bei der Akademie unter Mitwirkung Mommsens an einer Sammlung der Münzen Nordgriechenlands. Aus der Tätigkeit der numismatischen Kommission ging schließlich das Griechische Münzwerk hervor.

Adolf von Harnack [1851-1930; OM 1890] begründete 1891 zusammen mit Mommsen die Kirchenväterkommission, die die Edition der Griechischen Christlichen Schriftsteller, unter vollständiger Erfassung der handschriftlichen Überlieferung, in Angriff nahm. Diesen Texten, die für die Erforschung der Spätantike von besonderer Bedeutung sind, stellte Harnack die Monographienreihe der »Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur« (TU) zur Seite.

Die Akademienvorhaben Altägyptisches Wörterbuch und Strukturen und Transformationen des Wortschatzes der ägyptischen Sprache stehen in direkter Tradition des Projekts zur Schaffung eines Wörterbuches der altägyptischen Sprache, das 1897 auf Initiative Adolf Ermans [1854-1937; OM 1895] an der Preußischen Akademie eingerichtet wurde. Es ist durch die umfassende Erschließung des erreichbaren Textmaterials ein damals neuartiges und bis heute einzigartiges Unternehmen.

Die Turfanforschungentstand in Folge der Entdeckungen der vier deutschen Turfanexpeditionen in Chinesisch-Turkestan (1902-1914), die unzählige Objekte und ein sehr umfangreiches Textmaterial in mehr als zwanzig Sprachen und Schriften nach Berlin brachten. Viele dieser Sprachen waren bis dahin gar nicht oder nur sehr dürftig belegt. Die Objekte sind heute im Museum für asiatische Kunst, Berlin.1914 wurde das Textmaterial an die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften übergeben. Die ‚Turfantexte’ sind seither im Besitz der Akademie. F. W. K. Müller, A. v. Le Coq, R. Pischel, H. Lüders, E. Sieg, E. Siegling, W. Bang, W. Lentz, E. Waldschmidt, W. B. Henning, A. v. Gabain, O. Hansen und viele andere edierten vor allem die türkischen, iranischen, tocharischen und Sanskrit-Fragmente. Diese erste sehr intensive Phase der Erforschung der Turfantexte wurde durch den zweiten Weltkrieg unterbrochen.

 

Hermann Diels [1848-1922; OM 1881] initiierte 1907 das Corpus Medicorum Graecorum, das sich der historisch-kritischen Herausgabe der umfangreichen griechischen Ärzteliteratur widmet. Das Vorhaben mit Sitz in Berlin wurde als interakademisches Projekt auch von den Akademien Kopenhagen und Leipzig gefördert. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Zuständigkeit für das Corpus Medicorum Latinorum, das zunächst bei der Universität Leipzig angesiedelt war, an die Berliner Akademie übergegangen.

Eine entscheidende Änderung der Organisationsstruktur erfolgte 1921. Bisher hatte es für jedes Unternehmen eine Betreuungskommission gegeben. Als 1921 Otto Hirschfeld [1843-1922; OM 1884] die Leitung einiger Kommissionen aus gesundheitlichen Gründen aufgab, wurde auf Vorschlag von Wilamowitz die Kommission für griechisch-römische Altertumskunde gegründet, deren Vorsitz Ulrich Wilcken [1862-1944; OM 1921], ab 1939 Johannes Stroux führte. Hier wurden alle altertumswissenschaftlichen Vorhaben der Akademie außer dem CMG und den GCS, die ihre alten Kommissionen behielten, zusammengefaßt.

Johannes Stroux [1886-1954, OM 1937], auch als erster Präsident der Akademie nach dem Kriege weiterhin Vorsitzender der Kommission für griechisch-römische Altertumskunde, gründete 1946 ein Institut für hellenistisch-römische Philosophie. Ein Jahr später folgte die Gründung des Instituts für Orientforschung, das auch das Altägyptische Wörterbuch umfaßte. 1949 übernahm die Kommission das Polybios-Lexikon, das bis dahin an der Sächsischen Akademie angesiedelt war. Friedrich Zucker Zwei Jahre später richtete Friedrich Zucker [1881-1973; OM 1949] die Arbeitsstelle für Papyruskunde ein. 1950 begannen die Vorbereitungen für eine Berliner Arbeitsstelle des Mittellateinischen Wörterbuches, die im folgenden Jahr die Arbeit aufnahm. Seit 1954 gab es außerdem eine Abteilung Publikationen an der Kommission für griechisch-römische Altertumskunde. Im Folgejahr konstituierte man schließlich auch eine Byzantinistische Arbeitsgruppe, die in der Prosopographie der mittelbyzantinischen Zeit ihre Fortsetzung gefunden hat.

1955 faßte man im wesentlichen alle erwähnten Vorhaben im Institut für griechisch-römische Altertumskunde zusammen. Einige altertumswissenschaftliche Unternehmungen, die über Jahrzehnte bereits mehr oder weniger nur noch auf dem Papier existierten, wurden auch im neuen Institut nicht wieder aufgenommen; so der Index Rerum Militarium, die Fronto- und Strabo-Ausgabe, das Corpus Inscriptionum Etruscarum, die Formae Orbis Antiqui, die Rhetores Graeci und das Vocabularium Iurisprudentiae Romanae. Dafür wurden Bestrebungen, archäologische Feldforschungen auf ehemals griechisch-römischem Boden ins Werk zu setzen, von Erfolg gekrönt: in deutsch-bulgarischer Gemeinschaftsarbeit begannen 1958 die Grabungen am spätantiken Limeskastell Iatrus.

1965 gründeten W. Steinitz und G. Hazai die Turfanforschungsgruppein der Akademie der Wissenschaft der DDR. In der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften wurde das Editionsprojekt als das Akademienvorhaben Turfanforschung übernommen. Neben dem Editionsprojekt beschäftigt sich die Katalogierung der Orientalischen Handschriften in Deutschland, ein Projekt der Göttinger Akademie der Wissenschaft, mit der Erfassung der Turfansammlung (Die Katalogisierung der Orientalischen Handschriften in Deutschland (KOHD))

1969 wurde im Zuge einer Akademiereform das Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie (ZIAGA) geschaffen, in dem drei Institute zusammengefaßt wurden: die Institute für Vor- und Frühgeschichte, das Institut für Orientforschung und das Institut für Griechisch-römische Altertumskunde. Das neue Großinstitut gliederte sich in die vier Bereiche Ur- und Frühgeschichte, Alter Orient, griechisch-römische Geschichte und griechisch-römische Kulturgeschichte. Formal wurde im ZIAGA keines der sog. ›Traditionsunternehmen‹ abgeschafft, wohl aber die meisten zugunsten neuer, von der SED geforderter Projekte (wie eine »Geschichte des Deutschen Volkes«, die »Römer an Rhein und Donau« und eine zweibändige »Kulturgeschichte der Antike«) stark eingeschränkt. Noch mehr als zuvor spielte als restriktiver Faktor auch die Reisepolitik eine Rolle: die meisten der an den Unternehmen tätigen Wissenschaftler gehörten nicht zum Kreis der privilegierten Reisekader; auch die Kontroll- und Verbotsmaßnahmen bei der Korrespondenz dienten natürlicherweise nicht der Förderung der Unternehmen.

Nach der Wiedervereinigung mußten die Forschungseinrichtungen der nunmehr ehemaligen DDR in die Wissenschaftslandschaft der Bundesrepublik eingepaßt werden. Ein Schritt dazu war die kritische Überprüfung der Akademieinstitute. Die altertumswissenschaftlichen Traditionsvorhaben – auch im vereinigten Deutschland einzigartig und trotz der geschilderten Behinderungen der vorhergehenden Jahre international anerkannt – wurden positiv evaluiert. Nach einer Übergangsphase bei der Koordinierungs- und Aufbau-Initiative für die Forschung (KAI e. V.) wurden sie als Akademienvorhaben der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in die Struktur der Wissenschaftsorganisation des Landes eingefügt.